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Der Begriff der geschlechtersensiblen Medizin oder auch Gendermedizin ist in aller Munde – doch was steckt dahinter?

Social-Trolle gehen beim Stichwort „Gender“ gerne gleich die virtuellen Wände hoch – dabei verpassen sie den interessanten Aspekt, der hinter „Gender“-Medizin steckt: Es geht um eine Medizin, die die geschlechtsspezifischen Unterschiede von Frauen und Männern berücksichtigt. Das bezieht sich sowohl auf ihr biologisches, hormonell geprägtes Geschlecht, als auch auf ihr sozial-kulturelles Geschlecht, auf ihre Rollenmodelle und ihre Psyche.

Warum ist geschlechtersensible Medizin ein Trend-Thema?

Immer häufiger stellt sich bei Routineuntersuchungen heraus, dass Frauen andere Symptome haben können als Männer mit der gleichen Erkrankung. Oder umgekehrt. Das legt die Wahrscheinlichkeit nahe, dass sie auch anders behandelt werden sollten, damit die Therapie erfolgreich ist. So zeigen Mädchen mit ADHS häufig ganz andere Symptome als Jungen mit ADHS. Weil die jungstypischen ADHS-Symptome bekannter sind, wird ADHS bei Mädchen häufig nicht erkannt – oder aber erst sehr spät, wenn sie längst erwachsen sind. Und bis dahin erfolgt dann auch keine Therapie. Umgekehrt hat es lange gebraucht, bis die Medizin erkannt hat, dass sich Depressionen bei Männern ganz anders ausdrücken als bei Frauen. Deshalb gibt es immer noch eine hohe Dunkelziffer bei depressiven Männern.

Wie kam es zur geschlechterunsensiblen Medizin?

Früher basierte die medizinische Forschung und Erprobung von Arzneimitteln fast ausschließlich auf Tierversuchen mit männlichen Exemplaren. Die Forscher befürchteten, die weiblichen Hormone könnten die Forschungsergebnisse verfälschen. Aus diesen Ergebnissen resultierten Behandlungsmethoden und Medikamente, die den anderen Hormonhaushalt, den Stoffwechsel, die andere Fett-Masse-Verteilung, das unterschiedliche Gewicht und die Größe von Frauen überhaupt nicht berücksichtigten. Hinzu kam, dass Medizinstudenten häufig nur mit männlichen Übungspuppen in Kontakt kamen und die Lehrbücher nur die männliche Anatomie zeigten. Die Frau ist lange Zeit medizinisch als „hysterischer“ Mann in Frauenkleidern behandelt worden. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei.

Wie wirkt sich das Geschlecht auf Krankheit und Therapie aus?

So wie beim Alkohol, der sich in weiblichen Körpern viel langsamer abbaut als in männlichen, gibt es auch beim Verarbeiten von medizinischen Wirkstoffen im Körper Unterschiede bei Mann und Frau. Deshalb sollten einige Medikamente bei Mädchen oder Frauen anders dosiert werden als bei Männern. Solche Informationen fehlen aber noch in vielen Beipackzetteln. Hier kommt es auf den Arzt an, individuell richtig zu beraten. Außerdem spüren Frauen häufig mehr Nebenwirkungen von Medikamenten.

Was ist Frauengesundheit?

Bei der Frauengesundheit als Teil der geschlechtersensiblen Medizin geht es darum, eine auf Frauen zugeschnittene optimale Gesundheitsversorgung zu ermöglichen: Sie soll die biologischen Besonderheiten, aber vor allem die Lebensbedingungen und besonderen Bedürfnisse von Frauen berücksichtigen. Dabei geht es nicht nur um die Behandlung gynäkologischer Erkrankungen wie Endometriose, sondern auch um die spezifische Behandlung von „Volkskrankheiten“ wie Bluthochdruck oder Demenz.

Was ist Männergesundheit?

Hier geht es darum, bei Vorsorge, Diagnose und Therapie typische gesellschaftliche Männerrollen und -verhaltensweisen zu hinterfragen. Ziel ist auch, die unterdurchschnittlich ausgeprägte gesundheitsbewusste Lebensweise von Männern zu berücksichtigen und positive Verhaltensänderungen zu bewirken.

Kann man geschlechtersensible Medizin studieren?

Zwei medizinische Lehrstühle in Deutschland widmen sich bereits der geschlechtersensiblen Medizin: an der Berliner Charité und an der Universität Bielefeld. Außerdem gibt es erstes gendermedizinisches Lehrbuchwissen, mit dem weitere medizinische Hochschulen in Deutschland arbeiten. In Vorbereitung ist auch eine Aktualisierung der medizinischen Approbationsordnung, sodass Gendermedizin in einigen Jahren an allen Medizin-Unis zum Standardlehrplan gehören wird.